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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 30.11.2010


Das Labyrinth der Wörter - Ein Film von Jean Becker nach dem gleichnamigen Roman von Marie-Sabine Roger
Evelyn Gaida

Ein Dichter mit zerrauften Haaren, der fiebrig seine Gehirnwindungen durchpflügt? Im Grunde ganz ähnlich. Ein "bildungsferner" Bauarbeiter (Gérard Depardieu) ...




... namens Germain, dem eine zufällige Begegnung im Park durch Vorlesen allmählich eine ganze Welt eröffnet: das titelgebende Labyrinth der Wörter. Klingt wiederum nach Liebesgeschichte und ist auch eine, bloß ist die Dame (Gisèle Casadesus) in der Grünanlage schon um die 90 Jahre alt, das Verhältnis rein platonisch.

Alles an dieser Geschichte lässt an diverse Filmmotive denken, die man schon irgendwo mal gesehen zu haben glaubt – goldige Omi adoptiert gutmütigen Bauarbeiter mit ungehobelten Manieren, fertig scheint das Rührstück. Zwar bedient der Film diese kitschigen "Schon-gesehen-Klischees", gibt ihnen jedoch immer wieder eine weitere Dimension, die tatsächlich berührt, amüsiert und, mit einer Art kindhaftem Tiefsinn, die lebensgebeutelten KinogängerInnen auf warmherzigere Gedanken bringt. Es ist ein Märchen, aber keines, das eine(n) für dumm verkauft. Die filmkritischen BetrachterInnen der Pressevorführung verließen den Saal jedenfalls mit auffallend beseeltem Lächeln.

Apropos `adoptieren´: Er steht wirklich wie ein großes Kind in der Landschaft herum, dieser Germain, liebevoll und mitreißend gespielt von der ultimativ leibgeschneiderten Besetzung, Gérard Depardieu: Kugelbauch, Latzhose, Karohemd, Maurerhände, sperrige Beine und die übliche Frisur, die mit dem tolpatschigen Gang hin und her schaukelt – ein Einfaltspinsel und lauter Geselle, der den Pointen ständig hinterherstolpert oder selbst für welche sorgt, nur ohne es zu beabsichtigen. Doch so lustig ist das Ganze auch wieder nicht: "Man sollte aufpassen, bevor man Kinder macht, denn man kann sie nicht aussetzen wie Köter ... `Das da!´ ... Nicht mal meinen Hund würde ich so nennen", grummelt der Hüne vor dem Zubettgehen, von schauerlichen Kindheitserinnerungen heimgesucht. Er hatte nichts zu lachen. Würde es sich um ein Sozialdrama handeln, müsste man sagen, seine Kindheit war grausam. Gezeugt bei einem One-Night-Stand der Mutter verglich sie "das da", ihren ungeliebten und ungelenken Sohn, schließlich mit einem pfundigen Sack Kartoffeln, der ihr schon bei der Geburt das Leben schwer gemacht habe. Der sadistische Klassenlehrer trug das Übrige zum verkorksten Selbstbild bei: "eine Null". Trotzdem ein grundgütiger und einfacher Mensch mit elefantengroßem Herz geworden, liefert Germain damit ein weiteres Klischee - dahinter verbirgt sich jedoch die bewundernswerte Errungenschaft einer Selbstakzeptanz, die auf Bescheidenheit fußt. So bewerkstelligt es der Geschmähte, weder als Menschenhasser noch Selbsthasser durchs Leben zu gehen, stattdessen eine große Liebe zu schlichten Freuden und zu seiner ebenso gutartigen Freundin (Sophie Guillemin) hervorzubringen, der Busfahrerin des kleinen Ortes. Selbst für seine Mutter hat er noch treue Zuneigung übrig, sodass er mit himmelwärts verdrehten Augen ihre hysterischen Anfälle ertragen kann.

In der Mittagspause trifft Germain eines sonnigen Tages auf Margueritte, mit Doppel-T, auch ihr Vater nahm es beim Ausfüllen der Geburtsurkunde nicht so genau mit der Rechtschreibung. Dennoch wurden die Bücher Marguerittes Droge, wurde die Tochter eine Wissenschaftlerin und schließlich eine schalkhaft liebenswürdige alte Dame von fragiler Statur, die sich von Germains wuchtiger und derber Schale nicht abschrecken lässt. Seine kindliche Aufgeschlossenheit für kleine Glücksspender des Alltags (Taubenzählen und mit Namen ausstatten) schafft sofort eine unmittelbare Gemeinsamkeit und Verbindung zwischen dem sonst so ungleichen Paar. Die elegante und betagte Lady auf der Parkbank wird schnell zu Germains Dealerin eines kostbaren Stoffs. Mit ansteckender Begeisterung, frei von jeder elitären Arroganz und stupiden PaukerInnenmentalität liest sie ihm vor: die Passagen über die Ratten in Camus´ "Pest" oder die über Mutterliebe bei Romain Gary, und, siehe da, das Wortelixier tut in dem brachliegenden Kopf (der Originaltitel: "La Tête En Friche") seine berauschende Wirkung. "Schlafen Sie?!?" Nein, er sehe nur bei geschlossenen Augen die Bilder aus dem Lesefluss auftauchen, antwortet der ehemalige "Schulversager".

Beide entdecken eine neue Welt – die emeritierte Wissenschaftlerin durch den staunenden Blick des unverbildeten Gemüts und der Bauarbeiter durch den freigeistigen Reichtum und bildgewaltigen Jungbrunnen der alten Dame. Die Wortverliebtheit des Films entspringt dabei nicht nur den Büchern, sondern auch Germains unverblümter Bauernpoesie: "Verknittert wie Klatschmohn" und zart wie ein Glasfigürchen ist Margueritte seiner Beschreibung nach, "in alten Töpfen kocht es sich doch am besten" lauten seine "tröstenden" Worte für die 50-jährige Barfrau, die gerade von ihrem jüngeren Liebhaber sitzengelassen wurde. Margueritte halte Germain "bei den Ohren gefangen wie man einen Hasen fängt", wenn sie vorliest. "Als gebe man einem Kurzsichtigen eine Brille" verändert sie auf diese Weise seinen Blick auf die Dinge, schließlich wird er umgekehrt zu ihrem Augenlicht, als ihre physische Sehkraft schwindet.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Schön wär´s auf jeden Fall!

AVIVA-Tipp: Eine liebenswürdige "Märchenerzählung" über die berauschende Reise auf dem Strom der Worte, eine kleine Parabel über die unbegrenzten Möglichkeiten kindlich gebliebener Herzen und ein implizites Plädoyer gegen den gelehrten Unverstand elitären Bildungsdünkels. Mitreißende und hervorragende HauptdarstellerInnen inklusive.

Zum Regisseur: Jean Becker wurde 1938 in Paris geboren. Er arbeitete als Regieassistent für seinen Vater, den Regisseur Jacques Becker, und für Henri Verneuil. Als sein Vater 1960 unerwartet starb, führte Jean die Dreharbeiten von dessen Ausbruchsdrama LE TROU "Das Loch" zu Ende. Danach blieb er dem Metier treu, drehte drei Krimis bzw. Kriminalkomödien mit Jean-Paul Belmondo und arbeitete fürs Werbefernsehen. 17 Jahre später feierte er mit seinem Leinwandcomeback L´ÉTÉ MEURTRIER ("Ein mörderischer Sommer") Triumphe. Nach einer weiteren mehrjährigen Auszeit sorgte er mit ELISA ("Elisa") mit Gérard Depardieu für Furore. Der Film machte Sängerin Vanessa Paradis zum Star und wurde mit dem César in der Kategorie Beste Musik ausgezeichnet. In der Literaturverfilmung LES ENFANTS DU MARAIS ("Ein Sommer auf dem Lande") mit Gisèle Casadesus schuf er ein stimmungsvolles Porträt der "kleinen Leute" voller Menschlichkeit.

Das Labyrinth der Wörter
La Tête En Friche
Frankreich 2009
Buch und Regie: Jean Becker
DarstellerInnen: Gérard Depardieu, Gisèle Casadesus, François-Xavier Demaison, Maurane, Patrick Bouchitey, Jean-François Stévenin, Claire Maurier, Sophie Guillemin u.a.
Verleih: Concorde
Lauflänge: 82 Minuten, OmU
Kinostart: 06. Januar 2011

Weitere Informationen finden Sie unter:

labyrinth-derfilm.de

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